[Buchrezension] Der Lügenbaum - Frances Hardinge
Auf halbem Weg die nächste Klippe hinauf hing ein schwarzes Etwas über einem Baum. Es sah aus wie ein riesiges Hufeisen, dessen Enden nach unten wiesen, sodass das Glück herauslaufen konnte.
Es war eine Silhouette, nichts weiter, aber Faith wusste auf den ersten Blick, was es war. Menschen halten immer Ausschau nach anderen Menschen, und menschliche Augen haben das Talent, eine menschliche Form sofort zu erkennen. Mit grausiger Klarheit wusste sie, dass das, was sie sah, zwei baumelnde Beine waren, zwei schlaffe, nach unten hängende Arme und ein gebogener Rücken.
Es war ein Mann, der da über dem Baum hing. Die kalte Luft schnitt wie ein Messer in Faiths Kehle, als sie zum Haus zurückrannte.
Die 14-jährige Faith muss mit ihrer Familie überstürzt ihren Heimatort Kent verlassen und nun auf der kleinen, kalten Insel Vane leben. Ihr ist nicht klar, was der Grund für diese Veränderung ist, bis sie in all ihrer Neugier ein Gespräch belauscht und erfährt, dass ihrem Vater unterstellt wird, ein Betrüger zu sein, seine als Naturforscher entdecken Relikte und Fossilien gefälscht zu haben. Faith kann diesen Anschuldigungen keinen Glauben schenken, aber die Bevölkerung von Vane tut es umso mehr. Die Menschen beginnten, die Familie zu schneiden, ihr Hass entgegen zu bringen - bis ihr Vater eines Tages tot aufgefunden wird. Ein Unfall? Gar Selbstmord? Faith fallen Ungereimtheiten auf. Sie weiß, dass ihr Vater besessen war von einer Pflanze, dem sogenannten "Lügenbaum" - hat dieser etwas damit zu tun? Bald ist sie sich sicher, dass ihr Vater ermordet wurde, nur von wem und wie soll sie das beweisen?
MEINE MEINUNG
"Der Lügenbaum" spielt irgendwann um das Jahr 1860, zu einer Zeit, die für uns heute vollkommen unverständlich ist: Frauen durften nicht zur Schule gehen, geschweige denn arbeiten, Männer hatten vollends das Sagen, Linkshänder zu sein galt als Krankheit und weibliche Nachkommen waren nichts wert. In dieser Welt wächst die Protagonistin auf und trotz dieser Umstände gelingt es Autorin Frances Hardinge ganz wunderbar, starke Frauen in einer ebenso starken Geschichte zu etablieren. Der Schreibstil passt zum 19. Jahrhundert, ist aber trotzdem nicht altbacken, sondern im Gegenteil fließend und ungeahnt wortgewaltig. Die ersten 150 Seiten weisen einige Längen auf, weil diese wie eine Einführung in das Familienleben und die Zeit wirken, danach jedoch zieht das Tempo rasant an.
Faith ist eine wunderbare Hauptfigur, die man gerne auf der Suche nach dem Mörder und auch auf der Suche nach sich selbst begleitet. Sie ist neugierig und intelligent, auch wenn die Männer ihr letzteres immer wieder ausreden wollen. Es kommt vor, dass sie in alte Muster zurückfällt und versucht, sich zu verstellen, aber letztendlich findet sie ihren Mut immer wieder und begeistert mit ihrer Schlagfertigkeit. Ihre Eltern sind Personen, die man über lange Zeit nicht leiden kann. Das ändert sich bei ihrem Vater, einem unnahbaren und arroganten Menschen, auch nicht, aber die Art ihre Mutter, aus so gut wie allem Profit schlagen zu wollen, erklärt sich damit, dass einer Frau damals kaum andere Waffen blieben. Die Nebenfiguren bestechen ebenso durch ihre Ambivalenz: Der junge Paul, ewig desinteressiert und doch unwirsch bereit, Faith zu helfen; der gutmütige Onkel Miles, der seine eigenen Pläne verfolgt; oder auch die Bedienstete Jeanne, die von Angst getrieben zu so manch gemeiner Tat fähig ist - man muss die Charaktere nicht mögen, aber überzeugen können sie allemal.
Nachdem das erste Drittel leider eher vor sich hin dümpelt und Faith nur wenige Fragen stellt und daher auch nur wenige Antworten bekommt, wird es auf den letzten knapp 300 Seiten richtig mitreißend. Auf wahnsinnig unterhaltsame und geniale Weise gelingt es Faith, Schrecken unter den Inselbewohnern zu erzeugen, um Hinweise auf das eigentliche Geschehen am Todestag ihres Vaters zu erhalten. Die Dialoge sind manchmal witzig in ihrer Skurrilität, manchmal erschreckend, wenn es um die geringe Wertschätzung von Frauen geht, und manchmal hochemotional in Familienangelegenheiten. Faiths Suche nach der Wahrheit kommt nicht ohne Schwierigkeiten und Rückschläge aus, aber der mysteriöse Lügenbaum, das einzige leicht phantastisch angehauchte Element des Buches, hilft ihr dabei - für eine Gegenleistung, die sich schon bald verselbstständigt. Sensibel und doch ehrlich werden hier die Themen Familie, Zusammenhalt, Verrat und Lügen miteinander verwoben, sodass sie ein großes Ganzes ergeben. Bis zum Ende bleibt es spannend, und die Auflösung ist so wenig offensichtlich, dass es zur ein oder anderen Überraschung kommt. Zurück bleibt man mit dem Eindruck, etwas gelernt zu haben - und das, ohne irgendwie belehrt zu werden.
FAZIT
Frances Hardinge versteht es auf besondere Weise, ihre Leser in ihre originellen und faszinierenden Geschichten hinein zu ziehen. "Der Lügenbaum" hat anfangs ziemliche Längen, wird danach aber richtig, richtig gut - inklusive wichtiger Themen und einer spannenden Suche nach dem Mörder. Ich vergebe 4 sehr gute Punkte und rate zum Ausprobieren!
Meine Empfehlung für Leser auf der Suche nach starken (Frauen-)Figuren, originellen Einfällen und einer spannenden Mörder-Suche.
Hi du
AntwortenLöschenich hab deine Rezension als Link bei meiner Rezension dazu getan, wenn das nicht ok ist, bitte bescheid geben. Meine Rezension erscheint aber erst am 27.10.2017 um 12:00 Uhr. Und hier ist der Link http://www.querbeet-gelesen.de/der-luegenbaum-von-frances-hardinge/
Liebe Grüße Nicole
Du tschuldigung ich habe gerade festgestellt, dass ich dir den falschen Link gab, hier ist der richtige. Tut mir leid. https://goldkindchen.blogspot.com/2017/10/1602017-der-lugenbaum.html
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