[Buchrezension] Solange die Nachtigall singt - Antonia Michaelis
Jari kroch rückwärts unter der Fichte hervor, taumelte zurück auf die Lichtung, schüttelte sich und sah, dass die Nebel bereits in den Schatten lauerten. Der Abend kam.
Die Pilze ließen sich ganz leicht abbrechen. Sie schmeckten anders als die getrockneten Pilze aus der Küche, sie schmeckten nach dem Kuss von damals, der so abrupt geendet hatte. Jari verlor ein wenig die Übersicht über die Anzahl. Er brauchte die Pilze. Sie würden ihm die Angst nehmen.
"Joana Jascha? Jolanda?", flüsterte er schließlich. "Ich werde...Ich werde euch beschützen." Er packte sein Gewehr fester. "Vor was auch immer."
Für drei Wochen möchte Jari eine Auszeit von seinem langweiligen Leben inmitten von Hobelspänen und gestärkten Spitzentüchern. Er möchte wandern gehen, die Freiheit genießen. Also macht er sich auf, zu einem Wald an der Grenze zwischen Polen, Tschechien und Deutschland. Und dort begegnet er Jascha, so schön wie verstörend, die ihn mitnimmt zu ihrem Haus im Wald. Bald schon vergisst er die Zeit, sein altes Leben - und sich selbst. Um die Schönheit zu erhalten, wird er zum Jäger. Und findet nicht mehr den Unterschied zwischen Wahn und Wirklichkeit, Liebe und Hass...
BUCHAUFMACHUNG
Das Cover wirkt durch die dunklen Farben und die gräulichen Äste und Bäumen sehr geheimnisvoll. Im Hintergrund sieht man den verwischten Schemen einer Gestalt, die zu fliehen scheint, was toll zur Geschichte passt. Auch ohne Schutzumschlag sieht das Buch toll aus - es ist dasselbe Motiv, nur sind dort dieses Mal interessanterweise drei Schatten zu sehen. Wunderschön; da hat sich jemand viel Mühe gegeben!
MEINE MEINUNG
Antonia Michaelis ist schon lange etabliert und schafft es dennoch, mit ihren Romanen immer wieder zu überraschen. Nun ist mit "Solange die Nachtigall singt" ein weiteres Jugendbuch mit einem abgründigen und geheimnisvollen Thema erschienen. Lange habe ich drauf gewartet - und wurde nicht enttäuscht.
Beeindruckend ist von Anfang an die Sprache: In bildhaften, atmosphärischen Sätzen werden Landschaften, Gedanken und Emotionen so realistisch dargebracht, dass man sich sofort fühlt wie mittendrin. Während dies anfangs jedoch noch auf ein normales Maß reduziert ist, werden es im Laufe der Handlung immer mehr Metaphern und wunderschöne wie verstörende Beschreibungen, bis die Stimmung sich auf ein fast schon unerträgliches Maß an Traurigkeit, Wahnsinn und Faszination steigert. Wenn dann das Lied der Nachtigall, das eine besondere und tragende Rolle besitzt, erklingt und den Leser durch die verschiedenen, geheimnisvollen Strophen aus der Fassung bringt, dann ist das Gänsehaut-Feeling endgültig perfekt und lässt sich so schnell nicht mehr vertreiben. Alles, was dann noch bleibt, ist, sich auf die Figuren einzulassen und ihren Weg bis zum Ende mitzugehen.
Protagonist Jari ist eigentlich ein unscheinbarer Junge, hat kaum Erfahrungen mit Mädchen und schon gar nicht mit dem wirklichen Leben. Er möchte etwas erleben, doch er wird durch seine Erfahrungen im Wald in einen Strudel gerissen, der ihn mitnimmt und verändert. Seine Entwicklung - zum Guten wie zum Schlechten - ist immer glaubwürdig beschrieben und bleibt stets vorstellbar. Vom unsicheren jungen Mann zum Jäger ist es ein langer und doch kurzer Weg, der nicht nur ihn in den Abgrund reißt. Denn Jascha, das Mädchen, das ihn mitnimmt, ist nicht allein. Da sind noch Joana, die Spöttische und Jolanda, die Kalte. Nie kann man sich sicher sein, woran man ist und das ist es, was den Zauber ausmacht.
Der Wald ist tief und gefürchtet, weswegen nicht viele Personen ihn betreten. So ist es nicht verwunderlich, dass der Leser ansonsten nur wenige Nebenfiguren kennenlernt, die aber allesamt ebenso glaubhaft und realistisch charakterisiert sind wie die Protagonisten. Tronke, der Förster, der Jari das Schießen beibringt und Geheimnisse für sich behält - alle. Bronko, der Kindskopf, der nicht richtig sprechen kann, aber die Wahrheit kennt, der Angst hat und Mitleid erregend ungeschickt ist. Und Matti, Jaris bester Freund, der zuhause weilt und den er vermisst, mit seinen vielen Mädchen, seinen Weisheiten über die Liebe und der Freundschaft, die sie nicht Freundschaft nannten, weil es zu weich klingt. All diese Charaktere bevölkern das Buch, machen es lebendig und einzigartig.
Die Geschichte selbst fängt märchenhaft an, wie schon das vorhergegangene Buch, und steigert sich mit zunehmender Seitenzahl zu einiger Brutalität, einer äußerst verstörenden Atmosphäre und Verwicklungen, die einem den Atem stocken lassen. Was ist wahr und was ist Täuschung? Ist es ein Mädchen? Sind es 2? 3? Oder viel mehr? Das Haus trägt seinen Teil dazu bei, voller Spiegel und voller abgeschlossener Räume mit allerlei Geheimem. Man weiß nicht mehr, was man denken soll, während Jari nie weiß, wer wer ist. Wer lügt. Wer die Wahrheit sagt. Was es mit den vielen Gräbern im Wald auf sich hat - und was mit den Jägern, die vor ihm da waren. All das verwebt sich zu einem Dickicht aus Fäden, die entwirrt werden müssen, was schwierig, aber äußerst spannend ist. Dabei sollten Leser allerdings gewarnt sein: Es geht blutig zu, sehr blutig. Es gab Jäger und es gibt Jäger. Jäger jagen. Und nicht immer können die Opfer fliehen...
Darin eingeflochten ist die Geschichte von 3 kleinen Mädchen, 3 kleinen Mädchen, die im Dunklen sind, festgehalten werden und Schreckliches erleben. Wie Antonia Michaelis die Zwirne beider Handlungsstränge miteinander verwebt, ist wunderbar zu lesen, sorgt aber auch für ein immerwährendes Gefühl der Gefahr, je näher man dem Geheimnis kommt. Ich muss allerdings zugeben, dass ich mir die Auflösung schon relativ am Anfang gedacht habe - die Autorin überrascht geschickt mit einer unvergleichlichen Wendung am Schluss, ich jedoch habe genau so etwas schon ein- bis zweimal gelesen und war daher nicht komplett geschockt. Was auch daran liegen mag, dass genau dieses Ende nicht komplett schlüssig ist. Dass so vieles durch Pilze und Alkohol ausgelöst wurde, ist nicht ganz glaubhaft. Näher darauf eingehen kann ich jedoch nicht, ohne zu spoilern. Dennoch vermag genau dieser Abschluss wohl genug Leser zu verblüffen - und das ist ja die Hauptsache.
FAZIT
"Solange die Nachtigall singt" besitzt eine poetische, märchenhafte Art, die immer wieder durch die Brutalität der Geschichte zerrissen wird, was eine unbeschreibliche Atmosphäre erschafft. Das Buch ist blutig und grausam, genauso aber wunderschön und atemberaubend spannend. Nur das Ende konnte mir nicht komplett überzeugen: Einige Ungereimtheiten, die mit der Erklärung der Autorin nicht vollkommen geklärt werden. Ansonsten eine absolute Leseempfehlung! Sehr gute 4,5 Punkte.
Titel: Solange die Nachtigall singt
Originaltitel: -
Autor: Antonia Michaelis
Übersetzer: -
Verlag: Oetinger
Seitenzahl: 448 Seiten
ISBN-13: 978-3414820617
Also ich lese es momentan und bin leider noch nicht so überzeugt wie du :/ Für mich ist das ganze Buch einfach nur sehr verwirrend und durcheinander und ich muss gestehen, leider auch recht langweilig :( Habe es erstmal für Shades of Grey 2 unterbrochen (was mir natürlich vieeeel besser gefällt xD) Werd es aber dennoch zu ende lesen, ma gucken, vllt überrascht es mich noch positiv :)
AntwortenLöschenDeine Rezi ist auf jeden fall sehr schön geschrieben!!
LG julchen
Wunderschön geschriebene Rezension und jetzt habe ich ein Buch mehr, das ich noch lesen will, wobei ich unverständliche und vorhersehbare Enden nicht sooo mag. Aber erstmal will ich noch ein paar andere Bücher von Antonia Michaelis lesen.
AntwortenLöschenLiebe Grüße, Diti
Tolle Rezension, das Buch hört sich wirklich interessant an.
AntwortenLöschenAuf meinem SuB liegt erst noch "Der Märchenerzähler" von der Autorin, aber wenn mich das überzeugt, dann wandert dieses Buch ganz sicher auch auf meine Wunschliste!
Grüß Dich, Sonne.
AntwortenLöschenEin Jüngling verführt zum Abweg. Drei Frauen, die jeweils eine Stimmung variieren. Düsterer Wald und haluzinogene Pilze.
Spontan würde mir eine Atmosphäre ähnlich wie in "Krabat" vorstellen.
Anregend.
Geschickt ist übrigens Deine Spur Brotkrumen zur Handlung, die eine reiche Bühne aufbaut - ohne den Vorhang zur Gänze aufzuziehen. Das Publikum sitzt gespannt...
Gute Lesestunden Deinerseits also.
bonté
@Julia:
AntwortenLöschenDanke für das Kompliment erstmal ;) Ich finde grade das Verwirrende an dem Buch toll, weil man nie weiß, woran man ist. In Verbindung mit der wunderschönen Sprache und der Brutalität ist es meiner Meinung nach faszinierend ;) Aber man muss so etwas mögen! Ich hoffe, es wird dir noch gefallen!
@Diti:
Ich danke dir ;) Und ich würde dir das Buch sehr ans Herz legen, zuerst aber vielleicht noch "Der Märchenerzähler", das ist weniger verwirrend und toll zur Einstimmung auf die gewöhnungsbedürftige, aber wunderschöne Sprache. Und das Ende ist nicht komplett unlogisch - einiges passt schon sehr gut, manches aber wiederum auch nicht. Einige Dinge konnten durch Pilze und Alkohol nicht ausgelöst werden. Wenn es aber richtig schlimm gewesen wäre, hätte ich auch mehr abgezogen ;)
@Katie:
Dann lies mal den "Märchenerzähler" ganz schnell, das Buch fand ich nämlich auch 1A - spannend, gefühlvoll und mit einer intelligenten Story. Ich wünsche schon mal viel Spaß ;)
@RoM:
Ist "Krabat" nicht Fantasy? Ich hab das nicht gelesen, daher...öhm, nun ja. Ich sag zu meiner mangelnden Allgemeinbildung jetzt mal lieber nichts :D
Danke dir für das Kompliment wie immer, ich habe gehofft, mit der Rezension Lust auf das Buch machen zu können ;)
Die Mailantwort kommt übrigens noch - irgendwann...