[Buchrezension] The Bone Season: Die Träumerin - Samantha Shannon
Von draußen drang ein erstickter Schrei herein. Suhail schob sich zwischen den verschreckten Akrobaten hindurch und betrat die Hütte. Mit einem Blick hatte er alles erfasst: den Rauch, das Chaos. Kathryn sank auf ein Knie und beugte den Kopf.
Ich stand wie erstarrt. Suhail streckte die Hand aus, packte meine Haare und zog mich so dicht zu sich heran, dass unsere Gesichter sich fast berührten. "Du", fauchte er, "wirst heute sterben."
Seine Augen wurden flammend rot.
Da wusste ich, dass er es ernst meinte.
Vor Jahrhunderten begann ein Teil der Menschheit, sich zu verändern und seherische Fähigkeiten zu entwickeln - doch diese werden als widernatürlich angesehen und sind verboten. Nun, im Jahr 2059, sind die Menschen mit Fähigkeiten die Gejagten und Gehassten. Die 19-jährige Paige ist eine von ihnen, hat sich mit diesem Schicksal jedoch gut arrangiert. Bis sie von den Schergen der Regierung gefangen und von sogenannten Rephaim als Sklavin gehalten wird. Sie weiß, dass sie rebellieren muss. Doch wie, wenn ausgerechnet der gefährliche Arcturus, einer der Herrscher, über sie wacht?
MEINE MEINUNG
"The Bone Season" war im Original eine der Erscheinungen des Jahres, kein Wunder also, dass es nach drei Monaten nun schon auf Deutsch erhältlich ist. Samantha Shannon verbindet in "Die Träumerin", dem Auftakt einer Reihe, Dystopie-Elemente mit denen des Fantasy-Genres, und dies auf völlig neue Weise. Der Schreibstil ist dabei einnehmend und voller eindrücklicher Beschreibungen, zwischenzeitlich aber auch etwas zu detailreich und ausufernd.
Paige ist eine kämpferische und freche Protagonistin, eine echte Ganovenbraut eben. Vertrauen zu anderen Menschen fällt ihr nicht leicht, lieber stößt sie sie zurück, damit sie nicht verletzt wird. Zwar wirkt sie authentisch und überwiegend nachvollziehbar, vor allem in ihrer langsamen und doch stetigen Entwicklung, manchmal wollte ich sie aufgrund ihres ständigen Misstrauens und ihrer notorischen Undankbarkeit aber einfach nur schütteln. Wächter Arcturus hingegen hatte von Anfang an meine Sympathien und behielt diese auch. Er ist beschützend, wenn es nötig ist jedoch auch hart und unnachgiebig. Anfangs ist er sehr kühl, das ändert sich jedoch mit der Zeit, sodass man ihn immer besser kennen lernt. Die Nebencharaktere sind zum größten Teil gut durchdacht und halten vor allem einige Überraschungen für einen bereits, wirken aber oftmals auch recht schwarz-weiß: Die böse Nashira, die guten Freunde, die gewalttätigen Widersacher. Nur Denkerfürst Jaxon ist absolut undurchschaubar, was mir sehr gefiel, auch wenn er ein Antagonist sondergleichen ist.
Eines muss man Samantha Shannon lassen: Ihre Idee ist genial. Ihre Welt ist unterteilt in Menschen, Seher und Rephaim, wobei man nie hinter alle Geheimnisse der jeweiligen Spezies kommt. Die Seher sind noch einmal auf sieben verschiedene Kasten verteilt und darunter jeweils noch in verschiedene Arten - dies macht das Ganze vielfältig, originell, und anders. Allerdings auch sehr kompliziert. Insbesondere auf den ersten 50 Seiten gibt es für den Leser so viel Input auf einmal, dass man schon fast aufgeben will. Die Informationen hätten besser verteilt werden können, denn so passiert es einem oft, dass man, obwohl diese bereits erklärt wurden, noch einmal im Glossar nach Bedeutungen schauen muss. Dieses ist in diesen Belangen allerdings sehr hilfreich und erleichtert einem so einiges. Hat man die ersten Ladungen an geballten Informationen dann auch einmal überstanden, erwartet einen Unvergleichliches, und das meine ich völlig ernst.
Nicht nur wird die Geschichte absolut spannend und mitreißend erzählt, ebenso spielt die Autorin geschickt mit Geheimnissen, Lügen und Verrat; aber auch mit Freundschaft, Zusammenhalt und Rebellion. Es wird nicht langweilig, vor allem nicht, weil man sich nie ganz sicher sein kann, auf welcher Seite nun Wächter Arcturus steht. Die zu erwartende Liebesgeschichte entwickelt sich dabei jedoch unerwarteterweise wunderbar langsam und sanft, was absolut zur Geschichte passt. Nur geht genau das im letzten Teil des Werkes dann auf einmal entschieden zu schnell, weil mehrere Monate übersprungen werden. Hier hätte die Beziehung und der gesamte Fortgang definitiv noch ausgearbeitet werden müssen. Der Schluss ist dafür atemberaubend gut geschrieben und schließt wunderbar ab, es werden allerdings auch noch jede Menge Fragen offen gelassen. Ich hoffe, dass diese in Band 2 beantwortet werden, dann steht einer Steigerung nämlich definitiv nichts im Wege.
FAZIT
"The Bone Season: Die Träumerin" ist eines der originellsten Werke des gesamten Jahres und konnte mich deshalb schon einmal für sich einnehmen. Die Charaktere sind überwiegend gut ausgearbeitet, der Weltentwurf ist genial und die Umsetzung spannend - allerdings manchmal auch zu ausufernd und zum Ende hin ganz plötzlich zu rasant. Eine große Entwicklung zum nächsten Band ist aber auf jeden Fall möglich! Ich vergebe gute 4 Punkte und empfehle das Buch Lesern, die keine Lust mehr auf den Einheitsbrei haben.
Titel: Die Träumerin
Originaltitel: The Bone Season
Autor: Samantha Shannon
Übersetzer: Charlotte Lungstrass-Kapfer
Verlag: Bloomsbury Berlin
Seitenzahl: 608 Seiten
ISBN-13: 978-3827011718
Hallo Sonne.
AntwortenLöschenLesern eine erdachte Welt nahe zu bringen, ist der casus knacksus ipso in der phantastischen Literatur. Stete Herausforderung also.
Miss Shannon hat sich hier wohl für die frontale Methode entschieden. Ein Crash-Kurs. Kann, wenn geschickt gemacht, Ansporn sein sich in der fremden Welt langsam einzuklinken. Quasi wie das Verständnis für eine neue Sprache.
Im wenig idealen Fall können einen die ersten Seiten extrem an ein Briefing erinnern. Faktenlastig, deinsperierend - öde.
Persönlich sind mir ja Weltentwürfe lieb, die sich über die Figur(en)erklären. Wenn ich vielleicht erst nach 63 Seiten erfahre, daß die Ich-Perspektive vom Wesen einer Welt mit 50-facher Gravitation stammt.
Gute Erzähltechnik bleibt der Trumpf.
bonté