[Buchrezension] Die letzte Reise der Meerjungfrau oder Wie Mr. Hancock über Nacht zum reichen Mann wurde - Imogen Hermes Gowar
"Fragen Sie Ihre Frau, Sir", sagt der Makler. "Sie wird das vollkommen verstehen."
Aber Mr. Hancock versteht schon selbst. Seine Frau - ja, sie gehört ihm. Das Haus, ja, in Kürze ebenfalls. Das Kind, von dem er träumte, könnte eines Tages leibhaftig vor ihm stehen. Aber wenn die Grotte ebenfalls ihm gehören wird, sollte er dies als besonderes Zeichen verstehen. Ein langsames, verwundertes Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus, als er beregift, dass ihm das Haus mit der Grotte aus einem einzigen Grund gewährt wurde: Er wird auch eine Meerjungfrau bekommen.
Als der Kapitän seines Schiffes statt mit der gewünschten Ladung mit einer toten Meerjungfrau zurück kommt, ist der Kaufmann Jonah Hancock erst einmal zutiefst verärgert. Doch Not macht erfinderisch, und so stellt er das Fabelwesen zur Ansicht aus - ohne mit dem kommenden Ansturm zu rechnen. Schließlich wird ihm eine unglaubliche Summe für die Sirene geboten, und plötzlich ist er ein gemachter Mann. Nun hat er alles, was er sich wünschen kann - aber zu seinem Glück fehlt ihm noch eine richtige Familie. Angelica Neal, Kurtisane von Stand, ist die Frau seines Herzens. Doch um sie für sich zu gewinnen, muss er ihr eine lebende Meerjungfrau schenken...
MEINE MEINUNG
Das London des 18. Jahrhunderts - was für ein Schauplatz für einen Roman über Meerjungfrauen. Ist "Die letzte Reise der Meerjungfrau" überhaupt ein Buch über Meerjungfrauen? Es wird nicht ganz deutlich, mehr ist es wohl ein Gesellschaftsroman mit ganz leichten phantastischen Zügen. Klar ist aber, dass Debüt-Autorin Imogen Hermes Gowar einen unglaublich atmosphärischen Stil hat, der diese Stadt mit ihrer Atmosphäre, ihren Besonderheiten und ihren unterschiedlichen Bewohner auf eine so eindrückliche Weise zum Leben erweckt, wie man es selten erlebt. Erzählt wird hauptsächlich die Geschichte von Kaufmann Jonah Hanock und seiner Angebeteten Angelica Neal, aber auch Hancocks Nichte Sukie, die junge Prostituierte Polly und die Kupplerin Mrs. Chappell kommen zwischendurch zu Wort.
Es wird relativ schnell deutlich, dass von den beiden Protagonisten Angelica klar die stärkere ist. Zwar ist sie von ihrem Leben als Edelkurtisante verwöhnt und sie weiß wenig über das Führen eines Haushalts, ist sogar schon glatt arrogant in ihrer Unwissenheit - aber sie kennt es auch nicht anders und kämpft sich, als es wirklich drauf ankommt, mit deutlicher Willenskraft durch. Jonah Hancock hat dafür ein gutes Herz, macht sich ungern Feinde und greift und nur selten mal wirklich durch. Er lässt sich oft von anderen vorschreiben, was er zu tun oder zu lassen hat, aber seine Güte lassen einen oft über seine Schwäche hinwegsehen. Sympathieträger ist jedoch eindeutig die quirlige und für ihr Alter trotzdem sehr reife Nichte Sukie. Allen Frauen des Buches ist gemein, dass sie - ob auf gute oder schlechte Weise - für ihr eigenes Leben kämpfen, und dass sie dennoch in den Erwartungen anderer Menschen und ihren eigenen Zwängen gefangen sind - so ist die Situation der gejagten und gefangenen Meerjungfrau wohl eine Allegorie auf eben jene Zustände, könnte man sagen.
Denn diese Nixe kommt viel weniger im Roman vor, als man das bei dem Titel vermuten könnte. Sie ist eher der Auslöser für alle Geschehnisse: Dass sich Angelica und Mr. Hanock kennen lernen, dass sie eine Meerjungfrau verlangt und dass er versucht, ihr diese zu beschaffen. Besonders im Mittelteil wird das Buch eindeutig ein Gesellschaftsroman, der aber durch einige Überraschungen begeistern kann. Erst zum Ende kommen wieder phantastische Elemente auf, die dafür wunderbar genutzt werden: Die Stimmung ist melancholisch, geradezu düster, hat aber ihren ganz eigenen Reiz. Es wird mit den eigenen Erwartungen gespielt, was teilweise anstrengend, aber auch mal etwas ganz anderes ist. Nur das Ende gerät dafür, dass alles zuvor so aussschweifend behandelt wurde, ein wenig zu kurz, vor allem weil zuvor ausführlich beschriebene Handlungsstränge einfach fallen gelassen werden - da hätten ruhig 30 Seiten des Beginns für den Schluss verwendet werden dürfen.
FAZIT
"Die letzte Reise der Meerjungfrau" ist kein Fantasy-Roman und ganz anders als erwartet, aber er besitzt dafür eine besondere Atmosphäre und viele sehr unterschiedliche Charaktere. Allerdings war mir das Ganze zu Beginn zu langatmig, um dann am Ende zu kurz abgehandelt zu werden. Wer jedoch Lust auf einen Gesellschaftsroman mit phantastischen Elementen hat, die mehr eine Allegorie auf die Realität sind, ist hier gut beraten. 3,5 Punkte.
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